Dienstag, 7. Oktober 2014

Anfang des Gesprächs mit Thilo noch ohne Vorspann:



Gefangen

Every Breath You Take …


Wann ist ein Moment tatsächlich bezaubernd? Ich tippe grad Thilos Worte ab und bin immer noch verwirrt. Der Gesprächsmitschnitt scheint auch erst verspätet einzusetzen. Aus irgendeinem Grund kam er auf Hypnose. Wahrscheinlich war er keinen Rapport gewohnt und hat eine leidenschaftliche Frau. Hier seine Worte, unterbrochen durch meine Fragen.

Gestandene Freundschaft gab es nicht zwischen uns. Es war der Wille irgendetwas zu machen. In Thomas Manns Novelle „Mario und der Zauberer“ behauptete der Zauberer, dass er jeden dazu bringt, dass er ihn küsst. Das war ein hässlicher Mensch. Mario fühlte sich sicher vor ihm, weil er wusste, dass er das nicht will. Aber Jahrmarktsgaukler und Zauberer bringen am Ende jeden Menschen soweit, das, was sie wollen, zu tun. Da hat er diesen hässlichen Zauberer vor den Augen seiner Freundin, die im Publikum saß, geküsst. Der ließ ihn in dem Moment aufwachen. Mario war natürlich entsetzt und erschoss ihn, wie es in einer Novelle sein muss. Mario erlag seiner Schwäche, weil er immer nur etwas nicht wollte und am Ende überhaupt nichts mehr wollte, sodass er tat, was der Zauberer von ihm forderte. Ähnlich ging es mir. Du musstest irgendwas tun, damit du nicht dem verfällst und bloß noch zu allem Ja sagst. Wir brauchten eine Möglichkeit, um unsere Gedanken und Vorstellungen kundzutun und zu verbreiten. Aber zum damaligen Zeitpunkt gab es noch keine Wiedergabe von Literatur wie heute. Du hattest eventuell eine Schreibmaschine und so eine Wachsfolie. Die wirst du gar nicht mehr kennen. Damit konntest du Vervielfältigungen machen. Das waren Wachsbögen, in die du mit der Schreibmaschine den Wachs reingeschlagen hast: An den Stellen, wo die Buchstaben auf das Wachs geschlagen haben, fehlte das Wachs und über ein blaues Farbband gelangte Farbe auf das Papier. Und selbst das gab es nicht. Außerdem war es streng verboten irgendwelche Vervielfältigungen herzustellen. Das durftest du nur mit einer Genehmigungsnummer. Um an so ein Gerät zu kommen, sind drei Mann von uns nach Berlin gefahren. Dort gab es ein Lämmer-Ministerium. Lämmer war ein Minister in der westlichen, damals noch Bundesrepublik. Das Ministerium hatte seinen Sitz in Berlin. Die Drei haben dort vorgesprochen, ob sie so etwas kriegen könnten. Die Leute dort sagten: „Jungs, überlegt euch, was ihr hier macht. Das ist ganz gefährlich. Kommt in vierzehn Tagen wieder und schlaft erst mal drüber, ob ihr euch darauf überhaupt einlasst.“ Es war nicht so, wie das gern hingestellt wurde. Die wurden nicht abgeworben und bezahlt, damit sie gegen die DDR arbeiten. Am Ende haben wir doch das Gerät gekriegt und testweise auf der TH einen Aufruf zu einer Protestkundgebung zehnmal abgezogen, weil die Regelungen zu den Westreisen gelockert werden sollten, und sie auf den TH-Toiletten verteilt. Dem Aufruf folgten erstaunlich viele Studenten. Ich war lediglich ein Helfer. Die ganz Großen haben am Ende auch bis zu zehn Jahre Gefängnis bekommen. Die große Resonanz wurde uns 1959, als wir alle in einer Nacht verhaftet worden sind, auf der Bautzener Straße kundgetan. Die wussten alles, denn es gab einen bei uns in der Gruppe, dem das entweder zu heiß wurde und der aufhören wollte. Eine der Grundregeln war, wer bei uns in der DDR organisiert ist und aufhören will, muss in den Westen gehen, damit hier in der DDR kein Gefahrenpotenzial dafür besteht, dass die engsten Verwandten etwas erfahren. Der hatte aber auch nicht den Trieb rüber zu gehen und sofort weiter zu studieren, sondern hat sich seinem Vater offenbart. Der wiederum hatte aber nichts weiter im Sinn, als mit seinem Sohn auf die Bautzener Straße zu fahren. Dort ist der DDR Recht zu geben: Er konnte als Kronzeuge im Folgejahr sofort weiterstudieren, die haben ihn nicht Hals über Kopf als Gegner vernichtet, weil er irgendwann mal gegen sie stand. Ich habe vieles an dem Staatssicherheitsdienst, an dem U-Haft-Wachleuten zu schätzen gelernt, die versuchten, dir eine kleine Menschlichkeit anzutun.

FP: Weißt du noch, wie der Kronzeuge hieß?

Gestern hätte ich das vielleicht noch gewusst. Das ist mir jetzt entfallen. Aber das liegt auch daran, dass bei mir vieles nicht mehr so funktioniert. Ich komme jetzt nicht drauf.

FP: Wäre es für dich ok, wenn ich mal auf der Bautzener Straße nachhake, um mit dir zusammen in die Unterlagen einzusehen?

Ich habe dort noch nicht nachgeforscht oder irgendwie nachgefragt, weil ich eigentlich auch gesagt habe, dass das jetzt abgeschlossen ist. Ich hab meine Schuldigkeit getan und will mich möglichst nicht mehr so viel damit beschäftigen. Ich hab zwar in der Nachbarschaft einen Mann, der auch ungefähr in meinem Alter ist. Er ist Professor für Mathematik und Mann meiner Hausärztin. Mit dem habe ich viel über diese Sache geredet, weil er Interesse daran hatte. Der hatte mir auch schon seit Jahren gesagt: „Schreiben Sie das doch mal alles auf.“

FP: Drüber zu reden ist immerhin ein Anfang. Es in die Schriftform zu bringen, ist dann der nächste Schritt.

Ja, aber ich habe eigentlich noch nicht mal in meiner Familie darüber gesprochen. Meine Frau hat immer gedacht, dass ich mit irgendwelchen Krawallen auf dem Fucikplatz zu tun hatte und mich aber auch noch nie gefragt, was ich damals gemacht habe. Zwei-, dreimal habe ich leise versucht, mit ihr darüber zu reden, aber das hat sie nicht interessiert.

FP: Ist es für dich denkbar, dass ich das so, wie ich es jetzt aufzeichne, ins Internet einspeise? Oder ist das für dich unangenehm, wenn andere lesen können, was du gesagt hast?

Im Prinzip muss es mir nicht unangenehm sein. Ich brauche mich erst mal nicht dafür zu schämen. Ich wüsste nicht, was ich dagegen haben soll. Eigentlich müsste ich dem Staatssicherheitsdienst sogar dankbar sein, dass die dort am 29. Februar 1959 zugeschlagen haben und uns alle geholt haben. Denn ich habe mir im Nachhinein durch den Kopf gehen lassen, dass unsere dann auf 13 Mann erweiterte Gruppe in der Gefahr stand in Terrorismus auszuufern. Denn dort entstanden Gedanken, wie man Abtrünnige beseitigen kann. Am Ende wäre ich da auch nicht mehr aus diesem Dilemma rausgekommen. Wenn das damals nicht aufgeflogen wäre, wäre das in die Spalte geraten, was heute Terrorismus ausmacht. Ich muss sagen, alles, was mit Unmenschlichkeit zu tun hat, ist auch nie meine Sache gewesen.

FP: Ist es für dich ok, wenn ich ein Foto von dir mache oder ist das nicht gut?

Naja, fotogen bin ich sowieso nicht. Das weiß ich.

FP: Ich zeige dir das Foto und wenn du damit einverstanden bist, würde ich es … So, schau mich mal an wie jemanden, der dich veröffentlichen wird. Ja, das ist der Blick, den du dann hast.

Ja, nun kommt eben das, dass mein Sehvermögen dermaßen darniederliegt, dass ich auch mit Sehhilfe nicht viel erkennen kann. Jetzt mal außerhalb des offiziellen Programms: Bei mir geht es grad tüchtig bergab.

FP: Guck mich mal an und mach den Kopf hoch, wenn es bergab geht. Jetzt bin ich ganz nah. Genau.

Ich hab im Prinzip auch nichts dagegen, vor allem weil es auch für dich ist.

FP: Für dich ist es. Für dich. Wenn es nicht für dich ist, hat es keinen Sinn. Wenn du das nur für mich machst, ist das zu wenig.

Für mich gibt es nicht mehr viel zu tun.

FP: Erzähle, was sind die nächsten Ziele? Was willst du gern machen in nächster Zeit?

Das Allerschlimmste, was ich auch tagtäglich merke, ist, dass mein Gedächtnis nachlässt. Ich komme das erste Mal aus dem Krankenhaus nach Hause in den Turm, in dem ich seit 50 Jahren wohne … Das weißt du gar nicht, ich wohne in einem Turm …

FP: Ich stelle mir so einen Ziegelturm vor …

Aus Klinker gemauert. Als ich dann die erste Nacht wieder zuhause schlafen wollte, wusste ich nicht, wo das Schlafzimmer ist.

FP: Da ging dir viel durch den Kopf.

Ich wusste überhaupt nicht, wo ich bin. Auf einem Bild habe ich stundenlang nachgedacht, wer das ist. Da war eine Frau drauf, zwei andere Leute und ich war aber auch noch mit dabei. Ich habe ewig gebraucht, bis ich wusste, dass ich die Frau kenne, dass das meine Frau ist. Ich möchte aber auch nicht eines Tages irgendwo landen, du kommst zu Besuch und ich würde dich fragen: „Wer sind Sie denn?“

FP: Deshalb willst du dieses Medikament ausprobieren.

Das hat mir meine Hausärztin vorgeschlagen, die sagt, da gäbe es heute sehr wirksame Mittel. Da wird erst mit einem Psychologen oder Neurologen ein Test gemacht, bevor das verschrieben wird und die Kasse es bezahlt. Aber das alles ist ja keine Heilung. Das hilft vielleicht ein halbes oder zwei Jahre. Aber irgendwann kommt der Moment, wo du sagen musst, du bist kein Mensch mehr.

FP: Das glaube ich nicht.

Naja, das war auch der Grund, warum ich überhaupt im Krankenhaus war. Das ging zwar mit einer Herzsache los. Jetzt komme ich nicht mehr drauf. Namen, die mir jahrelang geläufig waren, sind auf einmal weg.

FP: Das ist so, wenn man sich ganz stark konzentriert wie in einer Prüfung. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass du dich gerade so sehr konzentrieren willst.

Das glaube ich gar nicht, dass das damit zusammenhängt. Ich will nicht eines Tages hier durch die Gegend laufen und … Dann bist du kein Mensch mehr. Du bist zwar ein Lebewesen, eine Daseinsform von einer Materie, die sich Leben nennt, aber Leben ist das nicht mehr, zumindest kein menschliches Leben.

FP: Du erlebst den Augenblick, du genießt den Moment. Das ist doch was Wunderbares.

Eigentlich haben ich dem Oberarzt auf dem Weißen Adler im Aufnahmegespräch erklärt, dass ich alle Medikamente von mir aus abgesetzt habe. Erstens weiß ich, wenn ich eines Tages in den Himmel kommen sollte, sitzt dort schon seit 16 Jahren ein Engel. Zum Zweiten hat sich der Oberarzt das auch so angehört, dass die medizinischen Kosten für andere, die vielleicht noch heilbar sind, am Ende noch verloren gehen, denn Psychopharmaka sind sehr teuer, wenn das sinnlos vergeudet wird.

FP: Wenn du sagst sinnlos, ist es erst recht nötig, weil du dann antriebssteigernde Dinge brauchst, vom Gespräch über die Medikation, über die Gestaltung des Tages, dass du merkst, wie wunderschön das ist zu leben, dass du dich wieder daran erinnerst.

Ja, wie schön das ist zu leben, habe ich am letzten Sonntag gemerkt.

FP: Bei dem Regenwetter … Der Regen prasselte so richtig aufs Dach.

Das darf ich niemandem groß erzählen, dass du wegen mir mit dem Bus – das sind ja Belastungen für dich …

FP: Die größte Belastung ist, wenn ich weiß, ich kann in den nächsten fünf Minuten nicht auf die Toilette …

Das wollte ich grade sagen.

FP: Ich habe also kurz vor knapp noch einen Kaffee getrunken und habe gedacht: Gottes Willen, wie kriege ich jetzt die Fahrt hin damit? Aber das hat alles besser geklappt, als ich dachte. Ich hab in dem Augenblick an dich gedacht und da war das plötzlich alles eine Kleinigkeit.

Das kann ich mir bis heute nicht vorstellen, was dich überhaupt dazu bringt, dass du dich mit mir hier her setzt.

FP: Na, warum heißt du Willkommen? Ist das Zufall?

Warum ich Willkommen heiße? Viele sagen: „Das ist aber ein schöner Name.“ Da muss ich aber auch was darauf erwidern: „Aber nicht jedem kann ich beweisen oder klarmachen, dass nicht unbedingt mein Name Garantie dafür ist, dass es am Ende so ausgelegt werden kann. Denn Willkommen war meine ganze Familie in Dittersbach draußen. Kennst du Dittersbach?

FP: Vom Hörensagen.

In der ganzen Ecke Schönfelder Hochland von Stolpen, Neustadt, die ganzen Dörfer und Kleinstädte gab es fast überall einen Willkommen. Das waren Bäcker. Ich habe auch, als ich dann nach Dresden zu meiner Frau gezogen bin, die ersten Jahre in unserem Küchenherd, der noch heute mit Kohlen und Holz beheizt wird Stollen und bei größeren Festlichkeiten die Kuchen selber gebacken. Wenn du aus einer Bäckerei kommst, möchtest du es ja bringen. Bis ich eines Tages diese Störung in der Mikrozirkulation bekam. Da veränderten sich die Finger, sobald es draußen winterlich wurde, im Aussehen ein bisschen. Dann bildeten sich Geschwüre.

FP: Merkst du das: Wenn du daran denkst, verändert sich die Handdurchblutung. Positiv denken!

Ja, ich kann schon auch positiv denken.

FP: Ich wollte dich nicht unterbrechen. Ich habe bloß gesehen, dass die Hand plötzlich eine ganz andere Färbung bekommen hatte, als du davon zu sprechen begonnen hast und dich daran erinnert hast. Das hat mir Angst gemacht.

Ja, mit dieser Hand habe ich auch in dem Sinne keine Probleme mehr, denn da wurde ich eines Tages von der Angiologie-Ambulanz auf der Forststraße geschickt. Die fanden auch nichts Neues und haben mich in die Schmerzambulanz weitergereicht. Da war die Frau Oberarzt Dr. Sabine Michel.

FP: Die ist blond …

Nu, eine Blonde. Aber heute …

FP: Hat sie geheiratet?

Ne, die ist auch nicht mehr als Ärztin an der Uniklinik. Da hat mir eine Oberärztin von der … Oh Gott, wie heißt das, wo das Gedächtnis behandelt wird?

(etwa 50 Prozent des Mitschnitts)

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